Page 87 - Heiligenhauser Magazin 1-2023
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entsteht die Buch-Dokumentation “Die un- heimliche Leichtigkeit der Revolution. Wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte“.
Wensierski lässt die Problematik der Jugendlichen in der DDR-Diktatur auch wei- terhin nicht los. Sein neues Buch, das Mitte März erscheint „Jena-Paradies: die letzte Reise des Matthias Domaschk“, erzählt im spannenden und mitreißenden Duktus von einer Generation Jugendlicher auf der Su- che nach einem freien, selbstbestimmten Leben. Im April 1983 steigt der 23-jährige Matthias Domaschk auf dem Weg zu einer Geburtstagsfeier ein in einen Schnellzug nach Berlin. Doch er kommt nie an, denn der vollbesetzte Zug wird in Jüterbog gestoppt. Matthias und drei weitere Jenaer festgesetzt, zwei Tage später liegt er in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Gera tot im Besucherzimmer. Was ist damals gesche- hen? Wensierski recherchiert akribisch in tausenden von Unterlagen, erzählt anhand der letzten Tage im Leben von Matthias Domaschk die Geschichte einer unange- passten Jugend und ihrer Widersacher in einem totalitären Staat. Wie für die Jenaer Szene der Polizeiüberfall auf eine Wohnge- meinschaft, der Protest gegen die Ausbür- gerung Wolf Biermanns zu Wendepunkten werden. Und er zeichnet das Bild einer zunehmenden politisierten Generation, die sich in Widerspruch zu ihren angepassten Eltern und intoleranten Bürgern begab,
sich politisch und auch kulturell schon in den siebziger Jahren über Grenzen hinweg verständigte – auf der Suche nach einem aufrechten und selbstbestimmten Leben. Fesselnd erzählt Wensierski das Drama
der letzten Stunden im Leben eines jungen Mannes, der auf der Suche nach sich selbst und einer lebenswerten Gesellschaft ist. Wie Teile eines Puzzles lassen überra- schende Rückblenden in sein Leben das Bild einer unangepassten Jugend in einem totalitären Staat entstehen. Der Blick hinter
die Kulissen eines autoritären Machtappara- tes offenbart erschreckende Geschehnisse und zeigt, wohin die Spaltung einer Gesell- schaft in Freunde und Feinde letztlich führt. In einem Gespräch erzählt Wensierski: „Vor allem ist „Jena-Paradies“ auch eine Nahauf- nahme des weitgehend verborgenen inners- ten autoritären Machtapparates und seiner Vollstrecker geworden. Ich bin dabei auf tief verwurzelte Denkweisen gestoßen, die of- fenbar bis heute nachwirken, auf Menschen, die wahnhaften Vorstellungen von Feinden und Gegnern haben, den Westen und seine Demokratie bis heute kategorisch ablehnen, die andere Leben und Lebenswege zerstört haben – und glauben, sie wären am Aufbau einer menschlichen Gesellschaft beteiligt gewesen. In ihrem Denken herrschte ein Idealbild von Gleichheit und Einheitlichkeit. Abweichungen von der Norm, Eigeninitia- tive und Individualität wurden schon beim geringsten Verdacht wegen angeblicher Staatsfeindlichkeit bekämpft. Das begann im Kindergarten, setzte sich in der Schule fort, im Studium und im Betrieb.“
Ich habe den Autor zu einer Lesung im Juni eingeladen. Zeit und Ort erfahren Sie aus der Presse.
Ruth Ortlinghaus
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